Zur Verleihung des Nobelpreises für Physik 2013 an François Englert und Peter Higgs
Die diesjährige Verleihung des Nobelpreises für Physik am 8. Okt. hat mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als in den Jahren zuvor. Grund dafür ist die bereits im Juli letzten Jahres bekannt gegebene Entdeckung des „Higgs-Teilchens“ am europäischen Großforschungszentrum CERN in Genf. In der Tat ist der experimentelle Nachweis dieses Teilchens ein herausragendes Ereignis für die Physik und die wissenschaftliche Welt insgesamt. Dennoch ist es nicht einfach, dem Laien nahe zu bringen, was so Besonderes an ihm ist und warum es den großen Aufwand rechtfertigen könnte, der mit seinem Nachweis verbunden war.
Wie der Name des zweiten Nobelpreisträgers, des Engländers Peter Higgs, vermuten lässt, ist Higgs gewissermaßen der „Erfinder“ des nun nachgewiesen Teilchens, dessen Existenz er schon im Jahre 1964 also vor fast 50 Jahren postulierte. Damals, in seiner kurzen Veröffentlichung unter dem Titel „Broken Symmetries and the Masses of Gauge Bosons“ (Phys. Rev. Let. 13, 508, 1964), bezeichnete er das Teilchen noch als „Gauge Boson“ (deutsch: Eichboson). Dass es später einmal seinen Namen tragen würde und ihn weltberühmt machen würde, war nicht zu erahnen. Eigentlich ist die Namenszuordnung auch eher ein Zufall, denn der Belgier François Englert und sein inzwischen verstorbener Kollege Robert Brout hätten eigentlich ein noch größeres Anrecht darauf, kamen sie doch mit ihrer fast gleich lautenden Publikation „Broken Symmetry and the Mass of Gauge Vector Mesons“ (Phys. Rev. Let. 13, 321, 1964) Higgs etwa drei Monate zuvor. Es handelt sich aber zweifelsohne um eine unabhängige Entdeckung, so dass der in beiden Arbeiten beschriebene Mechanismus, heute als BEH-Theorie bekannt, den Namen aller drei Forscher zu recht in sich vereinigt. Kurz gesagt lieferte der BEH-Mechanismus eine theoretische Möglichkeit, den der „Schwachen Wechselwirkung“ unterliegenden Teilchen (Elektronen, Neutrinos u.a.), eine Masse zuzuweisen, was vorher im Rahmen des Standard-Modells der Elementarteilchen nicht möglich war. Natürlich ist es kein Zufall, dass die unabhängige Entdeckung zeitlich fast zusammenfällt. Andererseits kann man aber auch nicht sagen, dass die Zeit dafür gekommen war, denn die Akzeptanz dieser neuen Idee ließ in der Gemeinschaft der theoretischen Physiker auf sich warten. Erst etwa zehn Jahre später, als in weiteren Arbeiten gezeigt werden konnte, dass die BEH-Theorie in der Lage war, allen bekannten Teilchen eine Masse zuzuweisen, trat sie und damit das Higgs-Teilchen ihren Siegeszug an.
Was ist nun das Bedeutsame an dem BEH-Mechanismus und warum machte die Zuweisung von Massen überhaupt Probleme? Dazu muss man etwas ausholen. Zunächst ist anzumerken, dass man in der Physik vier verschiedene Kräfte kennt. Nach der zeitlichen Reihenfolge ihrer Entdeckung geordnet sind das: Schwerkraft (Gravitation), Elektromagnetische Kraft, sowie die Starke- und Schwache-Wechselwirkung. Die Schwerkraft hält uns auf der Erde fest und bestimmt die Bahnen der Planeten und die Bewegung der übrigen Körper im Kosmos. Der elektromagnetischen Kraft begegnen wir heutzutage im täglichen Leben: elektrischer Strom treibt die Straßenbahn voran, lässt die Elektronen in unseren Computern ihre nützliche Arbeit tun, ist aber auch an allen chemischen Reaktionen z.B. auch in unserem Körper beteiligt. Sie ist damit für alle Lebewesen von größter Bedeutung. Die beiden letzten Kräfte, die man als starke und schwache Wechselwirkung bezeichnet, spielen im Atomkern eine entscheidende Rolle. Die starke Kraft bindet die positiven Protonen an die neutralen Neutronen und verhindert damit, dass der Kern auseinander fällt; umgekehrt schließlich ist die schwache Wechselwirkung dafür verantwortlich, dass er doch u. U. unter Aussendung von Strahlung – also radioaktiv – zerfallen kann.
Die Bezeichnung elektromagnetische Kraft, wird manchem nicht geläufig sein. Elektrizität und Magnetismus, ja, das kennt man, aber was soll Elektromagnetismus sein? In der Tat handelt es sich dabei um eine Entdeckung, die erst später in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch J. C. Maxwell (A dynamical Theory oft the Electromagnetic Field) gemacht wurde. Er erkannte, dass die elektrostatischen und die statischen magnetischen Erscheinungen Sonderfälle eines allgemeineren Kraftprinzips sind und nicht mehr voneinander zu trennen sind, wenn dynamische Vorgänge ablaufen, wie das beispielsweise bei einem Rundfunksender der Fall ist. Die zeitliche Variation eines elektrischen Feldes erzeugt nämlich ein magnetisches und umgekehrt produziert ein veränderliches Magnetfeld ein elektrisches Feld. Insgesamt ergibt sich aus dieser Kombination etwas Neues, die elektromagnetischen Wellen, die mit Lichtgeschwindigkeit in den Raum abgestrahlt werden.
Nimmt man noch die Quantenmechanik hinzu, so werden aus den abgestrahlten Wellen Wellen-Pakete mit einer bestimmen Energie, die nur von der Frequenz abhängt. Man nennt diese Energiepakete Photonen; es handelt sich um die Feldteilchen (auch Botenteilchen oder Bosonen genannt) der elektromagnetischen Wechselwirkung, die die Kräfte auf andere geladene (Materie)-Teilchen wie Elektronen oder Protonen übertragen.
Die Möglichkeit der Zusammenfassung zweier so verschiedener Erscheinungen wie Elektrizität und Magnetismus inspirierte schon früh namhafte Physiker darüber nachzudenken, ob nicht alle Kräfte zu einer einheitlichen Kraft zusammengefasst werden können. Das gelang schließlich mit den drei zuletzt genannten Anfang der 60-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Nur die Schwerkraft widersetzt sich bis heute diesem Wunsch der Menschen, alles so weit wie möglich zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Dennoch sind die meisten Physiker davon überzeugt, dass auch die Schwerkraft eines Tages im Rahmen einer „Grand Unified Theory“ (GUT) erfolgreich eingereiht werden kann, und die Stringtheorie ist eine der aktuellen Bemühungen, dieses Ziel zu erreichen. Angeleitet ist man dabei von dem Gedanken, dass diese Kräfte bei der Entstehung des Kosmos im Urknall tatsächlich in einer einzigen Kraft vereinigt waren. Die Zusammenfassung dreier Kräfte erwies sich aber schon einmal als ein enormer Fortschritt. Er erlaubte Murray Gell-Mann (Nobelpreis 1969) die Vielzahl der bekannten Elementarteilchen in einem übersichtlichen Schema zu ordnen. In diesem als „Standardmodell der Elementarteilchen“ bekannt gewordenen System gibt es drei Familien. Jede Familie enthält zwei leichte Teilchen (Leptonen) und zwei als Quarks bezeichnete Teilchen. In der ersten Familie, die abgesehen vom Urknall und den extremen Zuständen in den Beschleunigern, die einzig bedeutsame ist, bilden Elektron (Ladung = -‐1) und Neutrino (Ladung = 0) die Leptonen und die Quarks heißen „up-quark“ (Ladung = +2/3) und „down-quark“ (Ladung =‐-1/3). Daneben gibt es noch die Feldteilchen für die vier verschiedenen Kräfte. Die Photonen haben wir schon als zuständig für die Übertragung der elektromagnetischen Kraft kennengelernt. Bei der starken Wechselwirkung werden die entsprechenden Teilchen „Gluonen“ genannt. Sie kleben gewissermaßen die Quarks aneinander, so dass jeweils drei Quarks ein Proton (up + up + down) oder ein Neutron (up + down + down) bilden können. Bei der schwachen Wechselwirkung gibt es sogar zwei verschiedene Feldteilchen, die „W- und die Z-Bosonen“. Schließlich sind hier noch die hypothetischen Gravitonen zu nennen, die die Gravitationskräfte übermitteln sollen. Abgesehen von den Gravitonen sind die zuvor genannten Teilchen bereits allesamt experimentell nachgewiesen worden. Interessanterweise sind die Photonen und die Gluonen (und vermutlich ebenso die Gravitonen) masselose Teilchen; sie müssen sich daher immer mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Alle anderen Teilchen sind dagegen mit Massen behaftet, die sehr unterschiedlich ausfallen. Leider konnte das Standardmodell über diese Massen keinerlei Aussagen machen, da in diesem Modell alle Teilchen als masse-los angenommen werden (müssen). Tatsächlich ist das nicht so dramatisch wie es zunächst den Anschein hat, denn die Massen spielen eigentlich erst eine Rolle, wenn die Schwerkraft (oder die damit relativistisch verwandte Beschleunigungskraft) hinzu kommt. Bei den drei übrigen Kräften sind die Ladungen und die magnetischen Momente allein ausschlaggebend. Letztere kann man sich als kleine Stabmagnete vorstellen; sie ergeben sich aus dem Eigendrehimpuls (Spin) der Teilchen und sind ebenfalls gequantelt.
So erfolgreich das Standardmodell auch war, es musste schließlich doch falsch oder zumindest unvollkommen sein, wenn es denn keine Massen zuließ. Hier kommen wir nun zur BEH-Theorie zurück. Sie erlaubte es – gewissermaßen durch einen Trick – den Teilchen doch eine Masse zuzuweisen. Es geschieht dies durch die Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld. Wir haben bereits den Feldbegriff oben benutzt ohne ihn zu erklären und wollen dies nun kurz nachholen. Isaak Newton, der Entdecker der Schwerkraft hatte die Anziehungskraft zwischen den Planeten und der Sonne durch eine Fernwirkung erklärt. Mit dieser Erklärung gab man sich lange Zeit zu frieden, obwohl sie natürlich merkwürdig anmutete. Wie konnte sich diese Fernwirkung mit dem Abstand der Körper verändern, ohne dass diese miteinander in irgendeiner Weise kommunizierten? Es war Michel Faraday, ein Zeitgenosse und Kollege Maxwells, der anstelle der Fernwirkung den Feldbegriff einführte, ein Begriff, der in der ganzen modernen Physik eine entscheidende Rolle spielt. Faraday (übrigens ein Experimentalphysiker) wies auch dem an sich leeren Raum die Befähigung zu, bestimmte Eigenschaften anzunehmen. Ein schönes Beispiel hierfür das Erdmagnetfeld. Es ist weder sichtbar noch greifbar und doch können wir uns von seiner Existenz überall auf der Erde – und selbst in großer Entfernung von ihr, etwa in einer Raumstation – überzeugen: wir brauchen nur einen Kompass aus der Tasche zu ziehen und sehen wie sich seine Nadel zum Nordpol hin ausrichtet. Ebenso können wir uns das Higgsfeld vorstellen, es ist ein Feld das den gesamten Kosmos erfüllt und das allen Teilchen, die mit ihm wechselwirken, und das sind praktisch alle mit Ausnahme der masse-losen Photonen und Gluonen, bremst und ihnen so eine Masse zuweist. Wann und wieso ist das Higgsfeld entstanden? Unmittelbar nach dem Urknall entstand es durch eine spontane Symmetriebrechung infolge der Abkühlung der Urmaterie. Letzteres können wir uns auch wieder anhand eines Permanentmagneten veranschaulichen. Heizen wir etwa einen Magneten auf, so verliert er bei Erreichen der sogenannten Curie-Temperatur seine magnetische Eigenschaft. Lassen wir ihn danach wieder abkühlen, so bildet sich wieder ein Magnetfeld aus. Man versteht dies, wenn man weiß, dass das Magnetfeld durch Ausrichtung vieler mikroskopisch kleiner Stabmagnete (Dipole) gebildet wird. Mit steigender Temperatur nimmt die thermische Bewegung der Dipole zu, bis sie schließlich ihre ursprüngliche Ausrichtung verloren haben und alle in unterschiedliche Richtung zeigen, was aus makroskopischer Sicht einen Zustand hoher Symmetrie (Isometrie) darstellt. Umgekehrt stellt sich bei der Abkühlung der geordnete Zustand wieder ein. Man bezeichnet diesen Vorgang als spontane Symmetriebrechung. Higgs selber hat nicht genau diesen Vorgang bei seiner bahnbrechenden Arbeit im Blick gehabt, aber einen sehr ähnlichen, der 1960 von Yoichiro Nambu an der Universität Chicago untersucht worden war. Nambu (Nobelpreis 2008) beschrieb die Symmetriebrechung bei der Supraleitung, die sich wirklich schlagartig einstellt, wenn ein geeignetes Material auf eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt abgekühlt wird.
Es bleibt noch zu klären, wie das Higgs-Feld mit dem Higgs-Teilchen zusammenhängt. Hier sind wieder die quantenmechanischen Aspekte wichtig. Im Gegensatz zu sogenannten klassischen Feldern, wie sie etwa Maxwell beschrieben hat, kann nämlich ein quantenmechanisches Feld nicht beliebige Energiedichten annehmen. Ähnlich wie ein Atom gewöhnlich in dem energetisch tiefsten Grundzustand verweilt und dann nur Photonen einer bestimmten Energie (Frequenz) absorbieren kann, verhält es sich auch bei einem quantenmechanisches Feld. Nimmt es jedoch auf irgendeine Weise Energie auf und geht in einen angeregten Zustand über, so wird beim anschließenden Zerfall ein Feldteilchen (Boson) ausgesandt. Beim Higgs-Feld wird somit ein Higgs-Boson, ein ladungsloses Teilchen ohne Spin abgestrahlt. Dieses bietet gleichzeitig auch die (einzige) Möglichkeit die Existenz des Higgs-Feldes nachzuweisen. So wurde es auch bei CERN gemacht. Allerdings ist der Nachweis des Higgs-Teilchens besonders schwierig. Zum einen handelt es sich um ein sehr schweres Teilchen (125,5 GeV /c^2 ≈ 134 Protonenmassen oder zwei Eisenatome), so dass man einen äußerst leistungsfähigen Beschleuniger (LAC = large hadron collider, beschleunigt Protonen auf 7 TeV) für die Anregung braucht, zum anderen ist es ein extrem kurzlebiges Teilchen (Lebensdauer ≈ 10^-22 s), das auf zahlreiche Weise zerfallen kann. Der Nachweis gelang schließlich mit zwei verschiedenen Detektoren. Der eine filterte alle Zerfälle heraus, bei denen gleichzeitig zwei Photonen ausgestrahlt wurden, der andere diejenigen, bei denen vier Leptonen (zwei Elektronen und zwei Myonen) auftraten. Beide Zerfallsmodi haben eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit (0,2%, 0,013 %), so dass sich die Nutzsignale nur als winzige Erhebungen auf einem hohen Untergrund abhoben. Dennoch gelang der Nachweis mit einer hohen Signifikanz (5 sigma, d.h. die Gegenwahrscheinlichkeit ist vergleichbar mit derjenigen, dass beim Wurf einer Münze 22 mal hintereinander die gleiche Seite oben liegt).
Mit dem Nachweis des Higgs-Teilchens hat die Elementarteilchenphysik einen großen Schritt getan. Bilden doch die in der Welt vorkommenden elementaren Teilchen und ihre Eigenschaften die Basis für jedes tieferes Verständnis der physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Noch sind wir nicht in der Lage zu erklären, warum diese Teilchen die Parameter – Masse, Ladung, Spin usw. – aufweisen, die sie besitzen, doch ist mit Bestätigung des Standardmodells und seiner Erweiterung durch die BEH-Symmetriebrechung ein gutes Fundament für die zukünftige Forschung geschaffen worden.