Die Fülle der Leere: Alte und moderne Ansichten über das Vakuum Gerd Fussmann
Ahrenshoop (Schifferkirche), den 17. Sept. 2016
1. Einleitung
Im Folgenden wollen wir uns mit dem leeren Raum beschäftigen. Dieser "Nichtgegenstand" hat seit frühester Zeit die Einbildungskraft der Menschen beschäftigt und ist auch heute noch eines der zentralen Objekte der physikalischen Forschung. In der Physik und der Philosophie wird der leere Raum als Vakuum bezeichnet. Damit ist in erster Linie der von Materie freie Raum gemeint. Dies ist auch der Vakuumbegriff der Antike und der frühen Neuzeit, mit dem wir uns im zweiten und dritten Teil des Vortrags beschäftigen wollen. Der Erkenntnisfortschritt in der Physik hat es jedoch notwendig gemacht, die ursprüngliche Definition zu erweitern und zusätzliche Bedingungen mit dem Begriff des Vakuums zu verknüpfen. Hiervon wird im vierten Teil des Vortrags die Rede sein. Wir werden sehen, dass trotz dieser zusätzlichen Einschränkungen, das real existierende Vakuum nicht mit unserer naiven Vorstellung übereinstimmt, sondern etliche Eigenschaften aufweist, so dass wir mit Recht von einer Fülle der Leere sprechen können.
2. Frühe Gedanken zum Nichts und zur Leere
Das Nichts als der Gegenpol zum Seienden hat zu allen Zeiten den Geist und die Phantasie der Menschen beschäftigt. Ihm wurden intuitiv tiefgründige Eigenschaften beigemessen, die mit der Schöpfung der Welt oder auch der Existenz Gottes in engem Zusammenhang stehen. Die Ersten, die sich nachweislich mit dem Nichts befassten, waren die griechischen Philosophen beginnend mit den Vorsokratikern vor 2500 Jahren. Ihnen war es ein Anliegen, die Vielfalt der Erscheinungen auf ein einfaches Prinzip zurückzuführen. Dies ist im übrigen bis heute das Bestreben der Physik geblieben und gipfelt in der anhaltenden Suche nach der "Einheitlichen Theorie", die es erlaubt, die bekannten vier Kräfte (Gravitation sowie die Elektromagnetische-, Schwache- und Starke- Wechselwirkung) als Einheit zu verstehen. Thales (um 600 v. Chr.) machte sich bereits Gedanken, ob man zwischen dem Nichts und dem leeren Raum unterscheiden müsse. Er kam zu dem Schluss, dass das Nichts nur durch Verneinung, nämlich als Gegensatz zu allem und jedem, definiert werden könne. Da zu allem und jedem natürlich auch die Gedanken bzw. alles Denkbare zu zählen sind, wäre das Nichts, wenn es denn existieren oder denkbar sein sollte, ein Widerspruch in sich. Folglich kann es nach Thales das Nichts nicht geben, wohl aber den leeren Raum. Thales hat auch über die Schöpfung nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass alles aus dem Urstoff Wasser entstanden sein müsse.
Diese Idee eines Urstoffes ist von mehreren Philosophen aufgegriffen und abgewandelt worden. Parmenides führt an dessen Stelle die bekannten vier Elemente Feuer, Erde, Wasser, Luft ein. Diesen Elementen (erweitert um den Kosmos als fünftes) ordnet Platon später seine fünf regelmäßigen Körper zu. Für ihn sind jedoch nicht die Elemente selbst das Wichtige, sondern die geometrischen Beziehungen zwischen ihnen. Damit ist ein entscheidender Schritt zur Transzendierung getan: Nicht die Materie selbst, sondern der Bauplan der Materie (die Symmetrien und die Naturgesetze) ist von fundamentaler Bedeutung.
Ähnlich zu diesem platonischen Raum der Symmetrien ist der Urstoff seines Schülers Aristoteles (384-324 v. Chr.), die materia prima . Nach Aristoteles ist die materia prima, aus der alle übrige Materie entstanden ist, nicht real existierend, sondern ein geistiges Konzept, das hinter der scheinbaren Welt steht. Die materia prima trägt alle Möglichkeiten der Materie, insbesondere ihre möglichen Formen in sich. Es handelt sich um den mit Eigenschaften erfüllten, materiefreien Raum. Im Gegensatz zu Platon behauptet Aristoteles aber, dass es die Form an sich, also losgelöst von den materiellen Körpern, nicht gibt. Damit gibt es auch den leeren Raum in der realen Welt nicht. Dieses Postulat wird zum Naturgesetz vom horror vacui erhoben: Die Natur meidet den Vakuumzustand.
Wir werden später auf die zwei aristotelischen Aussagen zum Vakuum, der materia prima und den horror vacui, zurückkommen. An dieser Stelle ist jedoch noch wichtig anzufügen, dass die Griechen sehr wohl von der materiellen Natur der Luft Kenntnis hatten. Wir wissen dies insbesondere aus der Beschreibung der Klepshydra, des antiken Wasserhebers, durch Empedokles. Er beschreibt, wie beim Eintauchen der Klepshydra ( Abb. 1 ) in einen Behälter das Wasser durch die Öffnungen am unteren Teil erst dann einströmen kann, wenn der Finger vom oberen Schaft entfernt wird; „dann aber entweicht die Luft aus dem Schaft mit deutlichem Brausen und das Wasser nimmt den frei werdenden Raum ein“. Luft ist demnach ein Körper ähnlich wie Wasser und es verhält sich so, wie Aristoteles es postuliert hatte: Wo ein Körper ist, kann kein zweiter sein!
3. Die Entdeckung des Evangelista Torricelli und ihre Folgen
Als scheinbar unumstößliches Gesetz der Natur bleibt das Prinzip des horror vacui über fast 2000 Jahre hinweg in Ansehen: Ein Vakuum tritt in der Natur nicht auf und kann auch nicht hergestellt werden. Die Scholastiker des Mittelalters haben diese Auffassung allesamt geteilt und auch verschiedene Begründungen hierfür geliefert. Eine der interessantesten geht auf die Atomvorstellung von Demokrit zurück. Hiernach ziehen sich die Atome so stark an, dass ihre Trennung und damit ihre Entfernung aus einem Volumen nicht möglich ist.
Evangilisti Torricelli (1608-1648), einem Schüler des berühmten Galilei war es vorbehalten, das Naturgesetz vom horror vacui im Jahre 1644 vom Sockel zu stoßen. Er hantierte mit der in Abb. 2 skizzierten etwa 80 cm langen Glasröhre, die er mit Quecksilber füllte und dann in ein Quecksilberbad hineintauchte. Nach der Entfernung des Fingers von der Öffnung senkte sich der Quecksilberspiegel in der Röhre und es entstand im oberen Teil ein leerer Raum von etwa 4 cm Höhe: Das erste Vakuum in der Geschichte der Menschheit war hergestellt worden. Die Zeitgenossen waren größtenteils über die Maßen erstaunt und betrachteten diesen leeren Raum mit Ehrfurcht. Einige jedoch blieben skeptisch. So schreibt noch einige Jahrzehnte später Leibniz an Clarce: " …je mehr Materie es gibt, desto mehr Gelegenheit hat Gott seine Weisheit und Macht auszuüben, und gerade deswegen bin ich, neben anderen Gründen, der Meinung, dass es das Leere überhaupt nicht gibt".
Man kann sich fragen, warum es so lange gedauert hat, ein Vakuum herzustellen, wenn doch die Herstellungsweise so einfach ist. Ein Grund mag sein, dass niemand das Gesetz des großen Aristoteles ernsthaft in Zweifel gezogen hat. Dazu kommt aber sicherlich auch, dass das Rohr im Torricelli- Experiment mindestens etwa 80 cm (je nach Luftdruck) lang sein muss und dass Quecksilber in der hierfür benötigten Menge früher nicht zur Verfügung stand. Torricelli selbst hat weitergehende Versuche durchgeführt, die ihm z. B. zeigten, dass der Quecksilberstand unabhängig von der Form der Röhre und des Neigungswinkels des Rohres ist ( Abb. 3 ). Dabei hat er auch das Gesetz der kommunizierenden Röhren gefunden, auf das wir hier aber nicht näher eingehen wollen. Seine tiefste Erkenntnis ist vermutlich die Deutung der Atmosphäre als ein über der Erde liegender „Luftsee“. Am Boden dieses Luftsees befinden sich die Menschen und Tiere und atmen die Luft ein, gleichsam wie die Fische in einem gewöhnlichen See das Wasser einsaugen. Der Luftsee hat – und das ist entscheidend – ein Gewicht, das auf alle Oberflächen drückt. Es ist dieses Gewicht, das auf der Quecksilberoberfläche in der Abb. 2 lastet und damit das Quecksilber in der Röhre nach oben drückt. Ist die Röhre allerdings oben offen, so lastet auch auf der Oberfläche in der Röhre der Luftsee und das eingefüllte Quecksilber fließt vollständig in die Schale hinein.
Die Untersuchungen von Torricelli wurden von Blaise Pascal (1623-1663), einer der bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit, in Frankreich aufgegriffen. Er veranstaltete zunächst Aufsehen erregende Demonstrationen mit leeren Räumen an den Enden von 13 m hohen Röhren gefüllt mit Wasser oder Rotwein ( Abb. 4 ). An Stelle des Gewichts des torricellischen Luftsees formulierte er das noch heute gültige hydrostatische Gesetz, in dem der Luftdruck (genauer die Druckdifferenzen) die entscheidende Rolle spielt.
Zur gleichen Zeit wie Pascal beschäftigte sich in Deutschland der Bürgermeister von Magdeburg, Otto v. Guericke (1602-1682), mit den durch Torricelli aufgeworfenen Fragen zum Vakuum. Im Gegensatz zu Pascal war er in erster Linie ein Praktiker. Sein größter Verdienst besteht wahrscheinlich darin, als erster funktionierende Vakuumpumpen hergestellt zu haben. Mit diesen Pumpen konnte er große Behälter evakuieren und darin aufregende Untersuchungen (Uhren hört man nicht mehr ticken, Tötung von Tieren, Durchleuchten mit Licht etc.) vorführen. Bekannt wurde er insbesondere durch seine Vorführung auf dem Reichstag zu Regensburg im Jahre 1654: sechzehn Pferde waren nicht imstande zwei von ihm leer gepumpte Halbkugeln auseinander zu reißen ( Abb. 5 ). Guericke wusste auch um den Zusammenhang zwischen Luftdruck und Wetter. Er beobachtete, dass Gewittern ein Abfall des Quecksilberstandes, also eine Absenkung des Luftdrucks, vorausging. Ein weiterer wichtiger Umstand war ihm ebenfalls bekannt: Benutzte man seine Pumpen als Saugpumpe, so konnte man höchstens Wasser aus 10 m Tiefe abpumpen – ein Umstand der im Bergbau von großer Bedeutung werden sollte. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass mit der Entdeckung des Vakuums eine technische Revolution eingeleitet wurde, die noch heute nicht beendet ist. Im Bergbau, im Bauwesen, in der sich entwickelnden chemischen Industrie, der Medizin, bei der Glühlampenproduktion und in vielen anderen Bereichen der Technik und Wissenschaft wurde die Erzeugung von Vakua von grundsätzlicher Wichtigkeit. In den heute erreichbaren Ultra-Hoch-Vakua ist die Teilchendichte gegenüber der unter normalen Luftbedingungen (3⋅10^25 Moleküle pro m^3) um den riesigen Faktor 10^13 erniedrigt. Nach wie vor ist jedoch der intergalaktische Weltraum mit Abstand das beste Vakuum. Die atomare Teilchendichte beträgt hier weniger als 1 Atom pro Kubikmeter.
4. Moderne Ansichten zum Vakuum
Schon unmittelbar nachdem Torricelli gezeigt hatte, wie man ein Vakuum herstellen konnte, kamen Fragen auf, ob dies denn nun auch wirklich ein leerer Raum sei. Als berechtigter Einwand wurde zunächst angeführt, dass die Flüssigkeiten Dampf absondern könnten, so dass ein geringer Rest an Materie im Vakuumbereich übrig blieb. Diese Rückstände lassen sich bei Evakuierung von Behältnissen ohne Flüssigkeiten und mit Verbesserung der Pumpen sehr stark reduzieren und stellen zumindest kein prinzipielles Problem dar. Andere Einwände waren dagegen grundsätzlicher Art. So beobachtete bereits Guericke, dass das Vakuum von Licht durchsetzt und von Magnetfeldern durchdrungen werden konnte. Ist damit der Raum noch als leer zu bezeichnen? Sicher nicht! Fragen dieser Art waren es, die schließlich zu einer präziseren Definition des Vakuums zwangen.
James Clerk Maxwell ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diesem Bedürfnis nachgekommen. Vakuum sollte fürderhin nicht nur luftleer sein, sondern leer sein von allem, was man kennt. Das bedeutet, man muss einen solchen Raum nicht nur leer pumpen, sondern auch abschirmen gegen äußere Strahlung und Felder (Licht, Radiowellen, Magnetfelder usw.) und zudem ihn möglichst in ein schwerefreies Gebiet (Weltraum) bringen. Außerdem sondern die Wände gewöhnlich Wärmestrahlung ab, die man ebenfalls unterdrücken muss. Hierzu muss man den Behälter kühlen – möglichst nahe zum absoluten Nullpunkt. Insbesondere durch die letzte Maßnahme entzieht man dem Raum Energie. Das Vakuum sollte also ein Raum sein, der frei ist von Teilchen, Energie, Strahlung und Feldern also frei von allem, was überhaupt physikalische Realität hat. Lässt sich ein derartiges Vakuum herstellen? Nach den Vorstellungen der Physik des 19. Jahrhunderts durchaus, nicht jedoch nach unserem heutigen Wissen.
5. Was verbleibt im Vakuum
Da gibt es zunächst Teilchen, die im gesamten Kosmos auftreten und durch keine Wand aufgehalten werden können. Dies sind vor allem die Neutrinos, extrem leichte Teilchen, die zusammen mit den Lichtteilchen (Photonen) bereits in riesiger Zahl im Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren entstanden sind und nun das gesamte Weltall erfüllen. Sie entstehen darüber hinaus auch heute noch in der Sonne und allen Sternen und ebenso – in geringerer aber dennoch beachtlicher Zahl – in den Kernkraftwerken. Wie es im Namen bereits anklingt, sind Neutrinos elektrisch neutral, was ein wesentlicher Grund für ihre äußerst schwache Wechselwirkung mit der übrigen Materie ist. In der Tat können sie die gesamte Erde durchqueren, ohne dabei eine Ablenkung zu erfahren oder gar absorbiert zu werden. Das ist auch gut so, denn pro Sekunde durchqueren etwa 1 Millionen Neutrinos den menschlichen Körper.
Weniger häufig, aber auch allgegenwärtig im Kosmos sind die Teilchen der Kosmischen Strahlung, die aus extrem energiereichen Teilchen (meist Protonen) besteht und im Gegensatz zu den Neutrinos für Astronauten ein erhebliches Gefährdungspotential darstellt. Ihre Herkunft ist noch nicht zweifelsfrei geklärt, doch gibt es viele Hinweise, dass sie bei Super-Nova Explosionen entstehen. Auch diese Strahlung ist fast unmöglich abzuschirmen, und bei manchen Experimenten ist sie ein erheblicher Störfaktor. Dann muss man tiefe Bergwerke aufsuchen, um sie weitgehend zu unterdrücken.
Von gänzlich anderer Art sind das Higgs-Feld und das Metrische Feld der Gravitation, die ebenfalls allgegenwärtig sind und dem Vakuum nicht entzogen werden können. Das Higgs-Feld ist ihnen möglicherweise noch durch die Verleihung des Nobelpreises an Peter Higgs und Francois Englert im Jahre 2013 erinnerlich. Damals hatte man am Europäischen Großforschungszentrum CERN das Higgs-Teilchen nachweisen können. Dieses Teilchen wird abgestrahlt, wenn das Higgs-Feld aus einem angeregten Zustand in den energetisch niedrigsten, den Grundzustand, zurückkehrt. Sein Nachweis war damit gleichzeitig ein Nachweis für das bislang hypothetische Higgs-Feld. Letzteres ist nach Auffassung der Physiker unmittelbar nach dem Urknall (t < 10^-15 s) durch spontane Symmetriebrechung (infolge der Abkühlung auf Temperaturen unter 10^15 Grad C) entstanden und hat den verschiedenen Elementarteilchen ihre Massen zugewiesen. Seitdem ist es im gesamten Kosmos vorhanden, also auch im Vakuum.
Von ähnlicher Art ist das Metrische Feld der Gravitation. Es kommt gemäß der Allgemeinen Relativitätstheorie durch die Massenverteilung aller Körper im Kosmos zustande. Es verursacht die Fliehkräfte, die in allen Systemen auftaucht, die gegenüber dem Fixsternsystem eine Drehung aufweisen.
6. Vakuum-Fluktuationen und Vakuumenergie
Noch beeindruckender als die Konsequenzen, die man aus der allgemeinen Relativitätstheorie ziehen muss, sind die Folgerungen, zu denen uns die Quantentheorie (hier genauer die Quantenelektrodynamik) nötigt. Hier spielen die Heisenbergschen Unschärferelationen eine zentrale Rolle. Sie führen auf die Schlussfolgerung, dass kein Teilchen jemals im Zustand der Ruhe verweilen kann. Bezogen auf den leeren Raum besagt sie, dass diesem immer eine Restenergie verbleibt, die ihm grundsätzlich nicht entzogen werden kann. Diese Energie ist Fluktuationen unterworfen, die mit der kurzzeitigen Existenz von Teilchen aller Art einhergehen. Das Vakuum erzeugt nämlich fortwährend Paare von Teilchen und Anti-Teilchen und verschluckt sie gleich wieder. Schwere Teilchen (z.B. Protonen und Antiprotonen), denen nach der Einsteinschen Formel E = m c^2 eine hohe Energie zukommt, werden selten erzeugt und existieren nur für extrem kurze Zeiten (<10^-18 s), umgekehrt sind leichte bzw. energiearme Teilchenpaare (zwei Photonen oder Elektron-Positron) häufiger anzutreffen. Man nennt diese, nicht stabil vorkommenden Teilchen virtuelle Teilchen. Sie sind in den Experimenten nicht unmittelbar nachweisbar.
Will man aus den virtuellen Teilchen reale, das heißt direkt beobachtbare Teilchen machen, muss man dem leeren Raum Energie zuführen. Das kann man z.B. so anstellen, dass man ein Elektron mit einem Anti-Elektron (Positron) zusammenstoßen lässt. Alle Teilchen und Anti-Teilchen zerstrahlen miteinander und wandeln ihre Masse in Energie um. Lässt man nun zunächst Elektron und Antielektron mit nur geringer Energie aufeinander prallen, entstehen nur zwei Photonen (Lichtteilchen, in diesem Fall Röntgenblitze). Erhöht man aber ihre Geschwindigkeit und damit die Energie, so entstehen auch massereiche Teilchen der verschiedensten Art (Elektronen, Protonen, Myonen …). Der Strauß der entstehenden Teilchen wird um so größer, je höher die Energie ist. Dieser Sachverhalt ist in der Abb. 6 , in der die Teilchen durch Früchte dargestellt sind, veranschaulicht. Aus zwei Erdbeeren (eigentlich Erdbeere und Anti-Erdbeere) entstehen wiederum Erdbeeren, dazu aber auch Birnen, Bananen und andere Früchte.
Deutlich tritt bei diesen Experimenten der Unterschied zum ursprünglichen Atombegriff des Demokrit zutage. Demokrit (460-380 v. Chr.) hatte die Atome als die unwandelbaren und unteilbaren Bausteine der Materie eingeführt, aus denen letztlich jeder Körper bestehen sollte. Schon vor Jahrzehnten wusste man, dass die Atome der Neuzeit, die kleinsten Einheiten der chemischen Elemente, diesem Ideal nur bedingt entsprechen. Man kann sie nämlich doch zerlegen in kleinere Bausteine, wie Protonen und Elektronen. Auch diese nun als Elementarteilchen bezeichneten Partikel sind aber nicht unwandelbar. Sie verlieren beim Stoß ihre Identität und selbst die Anzahl kann sich ändern. Was jedoch bleibt, ist gewissermaßen der Bauplan: Nicht beliebige Teilchen können gebildet werden, sondern nur solche, die mit den Naturgesetzen (Erhaltungsätze für Energie, Ladung, Leptonenzahl usw.) im Einklang sind. Dabei sind die Möglichkeiten der Teilchenbildung bereits im Vakuum einprogrammiert. Nur solche Teilchen entstehen in der Realität, die auch bereits als virtuelle Teilchen vorkommen. Wir sehen damit, dass auf einer höheren Erkenntnisstufe die Materie eher durch die materia prima des Aristoteles als durch die Atomvorstellung des Demokrit beschrieben werden kann. Die geschilderten Stoßexperimente werden an den großen Beschleunigungsanlagen (z.B. CERN bei Genf und bei DESY in Hamburg) durchgeführt. Diese Großexperimente ermöglichen es somit, etwas über den im Vakuum angelegten Bauplan der Natur zu erfahren.
Kehren wir noch einmal zu den virtuellen Teilchen zurück. Man kann sich fragen, woher wissen wir, dass es sie wirklich gibt, wenn man sie nicht beobachten kann. Die Antwort ist: Es gibt zahlreiche indirekte Belege für ihre Existenz. Da ist zunächst der Zerfall der angeregten Atome, den man sehr gut mit ihrer Hilfe erklären kann. Auch der radioaktive Zerfall der Atomkerne wird durch die Fluktuationen des Vakuums bewirkt. Wir können uns das Prinzipielle am Beispiel eines Kaskadenbrunnens mit flachen Schalen klarmachen. Im angeregten Zustand befindet sich eine kleine Kugel auf einer der oberen Schalen. Ohne die virtuellen Teilchen, die wir uns als eine Art Hagel vorstellen können, würde unsere Kugel für alle Zeiten in dieser Schale verweilen. Die Hagelkörner stoßen jedoch laufend mit der Kugel, so dass diese eine statistische Zitterbewegung vollführt. Nach einer nicht genau bestimmten Zeit wird sie so über den Rand der Schale getrieben. In dem Augenblick, wo die Kugel in eine untere Schale fällt, wird die Fall-Energie (Bindungs-Energie) freigesetzt. Bei den angeregten Atomen ist diese Energiefreisetzung mit der Emission von Licht verbunden. Bei Atomkernen können außer Licht (in diesem Fall harte Gammastrahlung) auch Teilchen (Alpha- oder Beta-Strahlung) ausgesandt werden.
In jüngster Zeit sind weiterführende Experimente dieser Art im Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching durchgeführt worden. Schickt man angeregte Atome durch einen metallische Hohlraum, so kann man es so einrichten, dass das beim Zerfall der Teilchen frei werdende Licht eine Wellenlänge besitzt, die ein ganzzahliges Vielfaches des Hohlraumdurchmessers beträgt. Das Teilchen zerfällt dann schneller als gewöhnlich, da in diesem Hohlraum mehr virtuelle Photonen mit der passenden Wellenlänge (Resonanz) vorhanden sind. Quetscht man den Hohlraum etwas zusammen, verstimmt also seine Resonanzwellenlänge, so verhält es sich umgekehrt: Die Teilchen zerfallen jetzt im Hohlraum langsamer als außerhalb.
Auch die Energie der freigesetzten Strahlung ist von der Existenz der virtuellen Teilchen etwas beeinflusst. Die vom Wasserstoffatom abgestrahlten Wellenlängen des Lichts sind beispielsweise geringfügig vom berechneten Wert verschieden, wenn man den Einfluss der virtuellen Teilchen außer acht lässt. Es handelt sich um die so genannte Lamb-Shift der Spektrallinien. Der Unterschied, den die virtuellen Teilchen hervorrufen, kann genau gemessen werden. Er stimmt mit wunderbarer Genauigkeit mit der Vorhersage der Quantenelektrodynamik überein.
Eine weitere Bestätigung ergibt sich aus dem sehr bedeutsamen Casimir-Effekt. Der holländische Physiker Hendrik Casimir machte sich 1948 Gedanken über die Eigenschaften von Emulsionen. Warum sind beispielsweise Mayonnaise oder auch Wandfarben so „klebrig“. Er hatte die Idee, dass dies auf Kräfte zurückzuführen sei, die erst bei kleinen Abständen zwischen den Molekülen in Erscheinung treten und untersuchte daraufhin theoretisch, welche Kräfte zwischen zwei parallelen, elektrisch leitenden Platten auftreten, wenn man sie sehr nahe zusammen bringt. Seine Überlegungen gingen davon aus, dass zwischen den Platten nur Lichtwellen (hier virtuelle Photonen) auftreten können, deren Wellenlänge kleiner als der Plattenabstand ist, da ähnlich wie bei schwingenden Seiten, auf den begrenzenden Oberflächen Schwingungsknoten auftreten müssen. Dann befinden sich aber im Zwischenraum der Plättchen weniger Photonen (die Langwelligen fehlen) als im Außenraum, so dass in der Nettobilanz im Außenraum ein höherer Lichtdruck entsteht als im Inneren. Es kommt folglich zu einer anziehenden Kraft zwischen den Plättchen ( Abb. 7 ).
Zehn Jahre später wurden die ersten Experimente dazu durchgeführt, die seine Vorhersagen zu bestätigen schienen. Allerdings waren die Messungen sehr schwierig und letztlich mit einer großen Unsicherheit behaftet. Das verbesserte sich jedoch enorm mit den 1985 von Gerd Binning entwickelten Kraftmikroskopen. Man erkannte auch, dass es nicht notwendig war, die Untersuchungen an parallelen Platten vorzunehmen: eine kleine Kugel, die sich vor einer ebenen, leitenden Oberfläche aufhält ist wesentlich geeigneter den Effekt genau zu messen. Ein solches Kügelchen von 0,2 mm Durchmesser sieht man in der Abb. 8 . Die von Uma Mohedeen (Universiy of Calif. Riverside) im Jahre 2001 durchgeführten Messungen erreichten einen vorläufigen Genauigkeitsrekord von 1%.
Der Casimir-Effekt hat mit der Entwicklung der Nanotechnologie auch eine große praktische Bedeutung erlangt. So muss seine Wirkung besonders bei den winzigen Nano-Robotern, die durch den menschlichen Blutkreislauf zu bestimmten Organen geschickt werden, in Betracht gezogen werden. In der Zukunft sollen derartige Roboter nicht nur Messungen sondern auch mikroskopische Eingriffe im Körperinneren durchzuführen.
Schließlich wird die Vakuumenergie auch als eine mögliche Erklärung für die vor etwa 20 Jahren erstmals diskutierte „Dunkle Energie“ angesehen. Damit ist eine beschleunigte Ausdehnung des Kosmos gemeint, die aus den Beobachtungen der Astronomen gefolgert werden muss. Bekanntlich hat die Gravitationskraft ja immer anziehenden Charakter und sollte somit eher eine Verlangsamung der Ausdehnung zur Folge haben. Wenn nun aber das Gegenteil beobachtet wird, muss zusätzlich eine abstoßende Kraft im Spiel sein. Man nennt sie Dunkle Energie, da die hierfür erforderliche Energie nirgends in Erscheinung tritt. Andererseits könnte die im Vakuum schlummernde Restenergie dies möglicherweise bewerkstelligen. Leider ist es bis heute nicht möglich, diese Vakuumenergie hinreichend genau abzuschätzen. Der Grund ist die mit abnehmendem Abstand rasch anwachsende Casimir-Anziehungskraft. Das hat zur Folge, dass die Vakuumenergie umso größer ausfällt je kleiner man den kleinsten Abstand im Volumennetz macht. Wählt man als kleinsten sinnvollen Abstand die sogenannte Plancklänge (10^-35 m), so erhält man für die Vakuumenergie einen riesigen Wert, der umgerechnet nach Einsteins Formel E = m c^2 einer Dichte von 1096 Kilogramm pro Kubikmeter entspricht. Man fragt sich natürlich, wie kann das Nichts so schwer sein? Und in der Tat sagen die aktuellen Messungen aus dem Jahre 2012 (Wilkinson Microwave Anisotropy Probe) etwas ganz anderes. Sie liefern den winzigen Wert von 7x10^(-27) kg/m3, also fast null. Der Unterschied beläuft sich auf den ungeheuren Faktor von 10^123. Das ist wohl die größte Diskrepanz, die jemals in der Physik konstatiert wurde. Sie beruht letztlich darauf, dass es bislang nicht gelungen ist, Quantenmechanik und Relativitätstheorie mit einander zu vereinigen. Es bleiben also noch große Fragen offen.
7. Schlußbemerkungen
Zum Schluss wollen wir noch einmal auf das Analogon zwischen dem Fisch im See und dem Menschen im Luftsee zurückkommen. Der Fisch in seinem See ist ein treffliches Paradigma für eine eingeschränkte Weltsicht, denn er weiß nichts von der Welt außerhalb des Sees: Er kennt weder Feld noch Wald noch Wüste, noch den Menschen mit seinen Häusern, seiner Musik, seinen Büchern, seinen Autos … – die Liste hat kein Ende.
Selbstverständlich ist da der Mensch in seinem Luftsee in einer weitaus günstigeren Lage: Er kann schon von Natur aus, also ohne technische Hilfsmittel, die Landschaften durchwandern, auf Berge und Bäume steigen, im See tauchen und sogar die Sterne betrachten. Dennoch versteht auch er die Welt, allein gestützt auf seine Sinnesorgane, nur sehr unvollkommen. Er bemerkt nicht, dass die Erdoberfläche gekrümmt ist und eine Kugel bildet und erst recht nicht, dass die Erde sich dreht, dass im Wasser Bakterien sein können, die ihn krank machen, dass ihn Hochfrequenzwellen umgeben, die im Fernsehapparat zu Bildern umgewandelt werden können, dass die Neutrinos der Sonne und ebenso die kosmische Strahlung in jedem Augenblick seinen Körper durchdringen … – auch diese Aufzählung lässt sich lange fortsetzen. Aber, und das unterscheidet ihn grundsätzlich von allen anderen Lebewesen, er kann kraft seines Verstandes sich dieses Wissen verschaffen. Ihm allein wird damit auch Einsicht gewährt in die Welt der tieferen Wirklichkeit, die hinter der Welt der einfachen Erscheinungen liegt. Auch für dieses Erkenntnisprivileg des Menschen wollte dieser Vortrag ein Beispiel geben. Aus der ursprünglichen Vorstellung vom Vakuum als leerer Raum, den die Natur aber nicht zulässt, sind wir nach nunmehr 2500 Jahren geradezu bei einer gegenteiligen Auffassung angelangt. Zum einen ist der Vakuumzustand in der Natur fast allgegenwärtig: Wir finden ihn nicht nur in den Weiten des Kosmos, sondern auch in der scheinbar dichten Materie, da auch diese, aus mikroskopischer Sicht, im Wesentlichen aus den leeren Räumen innerhalb der Atome besteht. Zum anderen ist das Vakuum nicht ohne Eigenschaften. Es wiederholt mit der ständigen Entstehung und Vernichtung von virtuellen Teilchen im Kleinen immerzu, was im Urknall im Großen als einmaliger Schöpfungsakt der Welt stattfand.
Populärwissenschaftliche Literatur:
1) Hennig Genz, Die Entdeckung des Nichts, Hanser-Verlag 1994
2) Guiseppe Caglioti, Symmertriebrechung und Wahrnehmung, Vieweg-Verlag